19. Januar 2023 | Der ‚Synodale Weg‘ der Kirche in Deutschland
Autor: Prof. Karl-Heinz Menke
Quelle: Korrespondenzblatt 131 (2022) 112-122
Fünfhundert Jahre sind seit der Geburt des hl. Petrus Canisius vergangen. Aber die Aktualität des zweiten Apostels der Deutschen ist ungebrochen. Denn sein Leben für die Erneuerung der Kirche lässt auf Anhieb erkennen, warum der ‚Synodale Weg‘ der Gegenwart falsch ansetzt. Statt die Krise wie Canisius vorrangig als Krise des Glaubens zu erkennen, sucht er die Ursache in der Lehre, in Strukturen und im System.
Wenn ich der Bitte entspreche, den ‚Synodalen Weg‘ der Kirche in Deutschland zu kommentieren, dann unter der Voraussetzung, dass ich keinen Standpunkt jenseits von ‚Pro‘ und ‚Contra‘ einnehmen kann. Denn ich halte das Unternehmen für ein zum Scheitern verurteiltes Desaster. Deshalb ist mein Kommentar eine Kritik – eine Kritik allerdings, die hofft, dass sie von der Realität widerlegt wird. Anders gesagt: Es wäre gut, wenn nicht eintrifft, was ich befürchte.
Kaum jemand wird bestreiten, dass die MHG-Studie (statistische Dokumentation des Missbrauchs) und die in den meisten Bistümern noch ausstehende Benennung der Täter und Vertuscher Konsequenzen haben muss. Und wenn diese Konsequenzen von allen deutschen Diözesen gemeinsam auf einem ‚Synodalen Weg‘ gezogen werden sollen, ist das vorbehaltlos zu begrüßen. Aber: Warum das Konstrukt eines ‚Synodalen Weges’ mit selbst gebasteltem Statut? Warum nicht ein in CIC cc. 439-446 geregeltes Partikularkonzil der deutschen Bistümer? Warum eine nicht kanonische Institution? - Die Antwort liegt auf der Hand. Die Initiatoren wollten die Genehmigung der zu verhandelnden Inhalte durch Rom und die dogmatisch wie kirchenrechtlich vorgegebene Unterscheidung zwischen stimmberechtigten Apostelnachfolgern und nur beratenden Delegierten oder Experten vermeiden. Deshalb die Idee einer paritätischen Unternehmung von DBK (Deutsche Bischofskonferenz) und ZdK (Zentralkomitee der deutschen Katholiken). Diese beiden Gremien stellen jeweils dieselbe Zahl an stimmberechtigten Delegierten – wie innerhalb von Tarifverhandlungen der Gewerkschaften; auch da sind die Tarifpartner in gleicher Zahl vertreten und wählen zwei gleichberechtigte Vorsitzende.
Das ZdK ist kein demokratisch gewähltes Organ und erst recht keine repräsentative Abbildung der katholischen Kirche in Deutschland. Ursprünglich gegründet, um die Stimme der Kirche in die säkularen Bereiche von Kultur, Politik und Gesellschaft zu tragen, versteht sich das ZdK heute eher als Forum innerkirchlicher Kritik. In einem mehrfach publizierten Beitrag zum Thema „Kirche und Demokratie“ hat Joseph Ratzinger zur Jahrtausendwende erklärt: Das ZdK „nimmt Stellung zu den seit dem Konzil beträchtlich vermehrten innerkirchlichen Streitigkeiten. Das bedeutet, dass die Kirche, soweit sie sich im ZdK darstellt, immer mehr um sich selber kreist, immer mehr mit sich selbst beschäftigt ist, anstatt ihre Energien darauf zu verwenden, das Evangelium verständlich und wirksam zu den Menschen zu bringen.“[1]
Es gibt bisher keine mit der MHG-Studie vergleichbare Statistik über Missbrauch in der Evangelischen Kirche, über Missbrauch in Schulen, Internaten oder Sportverbänden. Und weil nur die katholische Kirche global organisiert ist, gibt es nur in ihr eine nicht nur nationale, sondern auch globale Aufarbeitung – dokumentiert von der römischen Glaubenskongregation. So ist in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden, sexueller Missbrauch und katholischer Klerus seien weltweit die zwei Seiten derselben Medaille. Viele Menschen assoziieren mit dem Stichwort ‚Missbrauch‘ einen katholischen Priester. Nicht nur kirchenkritische Journalisten, sondern auch deutsche Bischöfe haben dieses völlig abwegige Bild eher gefördert als korrigiert. Bischof Heiner Wilmer hat die prophetische Gabe von Eugen Drewermanns Kleriker-Analyse gerühmt und mit der Überzeugung gepaart, der Kindesmissbrauch gehöre zur DNA des katholischen Klerus.[2] Und der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz bezeichnet seine Kirche als „Täterorganisation“.[3] Als sei der Missbrauch ein kollektives Problem der katholischen Kirche oder zumindest ihres Klerus! Natürlich sind auch zwei Prozent eine erschreckend hohe Zahl. Und natürlich ist die moralische Fallhöhe eines Missbrauchstäters im kirchlichen Kontext größer als in zivilen Bereichen. Aber mehr als 90 % der Seelsorger haben mit dem Missbrauch rein gar nichts zu tun. Deshalb darf es keinen Generalverdacht gegen Priester geben. Deshalb ist die individuelle Benennung der Schuldigen viel wichtiger als die statistische Dokumentation. Gerade wir Deutschen sollten auf Grund unserer Geschichte wissen, dass es keine Kollektivschuld gibt. Statt sich in den Mittelgang ihrer Kathedralen zu strecken und stellvertretend kollektiv-anonyme Schuldbekenntnisse zu proklamieren, sollten alle Bischöfe, die enttarnte Missbrauchstäter weiter im Dienst belassen und von X nach Y versetzt haben, ihre persönliche Verantwortung klar benennen und gegebenenfalls zurücktreten. Es wäre besser gewesen, alle deutschen Diözesen hätten nicht nur die Erstellung der MHG-Studie (die Statistik des Missbrauchs), sondern auch die individuelle Benennung der Schuldigen durch eine einzige Institution nach gemeinsam erarbeiteten Kriterien vornehmen lassen. Die zweite Phase der Aufklärung zieht sich deshalb so lange hin, weil viele Oberhirten im Unterschied zum Erzbischof von Köln bislang nicht einmal eine, geschweige denn zwei unabhängige Kanzleien mit der entsprechenden Aufgabe betraut haben. Wer die individuelle Mitverantwortung auf das System abwälzt, bedient den Sündenbockmechanismus. Nicht wenige Befürworter der Agenda des ‚Synodalen Weges‘ scheinen zu meinen, dass die individuelle Schuld des je einzelnen Missbrauchstäters und die individuelle Schuld des ihn deckenden Entscheidungsträgers Folgen einer bestimmten Machtstruktur (Forum I), der zölibatären Lebensweise der Priester (Forum II), des Ausschlusses der Frau aus dem sakramentalen Ordo (Forum III) oder einer allzu strengen Sexualmoral (Forum IV) seien. Schuld aber hat nicht die sakramentale Struktur; Schuld hat nicht der Zölibat; schuldig ist ganz sicher auch nicht die katholische Sexualmoral; schuldig ist der je einzelne Missbrauchstäter; und schuldig sind Entscheidungsträger vom Personalchef aufwärts bis hin zum Bischof, die Missbrauchstäter gedeckt, im Amt belassen und gegen die Anklagen der Opfer geschützt haben.Ganze Heerscharen von angeblichen Experten – z. B. fast alle Autoren der Freiburger Buchreihe „Katholizismus im Umbruch“ – gehen davon aus, dass die hierarchische Struktur der katholischen Kirche, ihre neurotisierende Sexualmoral, die krank machende Idealisierung des mit der Zölibatsverpflichtung verbundenen Weihepriestertums, ein gestörtes Verhältnis zum anderen Gechlecht, eine weltfremde Seminarerziehung und eine „von Selbstunterdrückung, Selbstentleerung und Selbstaufoperung“[4] bestimmte Spiritualität Katalysatoren des Missbrauchs und seiner Vertuschung sind. In keinem Beitrag dieser Buchreihe findet sich auch nur ein einziger Hinweis auf die beim Täter selbst liegenden Ursachen. Denn den Autoren dieser Reihe – ansonsten radikale Verfechter der Autonomie und Selbstverantwortung des mit „formal unbedingter“ Freiheit begabten Individuums - geht es aus durchsichtigen Gründen beim Thema ‚Missbrauchsskandal‘ nicht um die Schuld der je einzelnen Täter, sondern um die Schuld des Systems ‚katholische Kirche‘ und ihrer Lehre.[5]
Vermutlich beginnt die Karrierre eines klerikalen Verbrechers mit einer verlogenen Entschuldigung der eigenen Schwäche; mit der Lüge zum Beispiel, die Sublimierung des Sexualtriebs durch ein Leben nach den evangelischen Räten und die Bezeichnung der Gemeinde als Braut des Priesters seien neurotisierende Bestandteile einer sich durch Selbstüberhöhung gegen die Wirklichkeit abschottenden Institution. Wer Spiritual in einem Konvikt oder Priesterseminar war, weiß: Am Anfang von Priester-Tragödien stehen fast immer faule Kompromisse oder die Selbstrechtfertigung eines Doppellebens; die Abschottung des Privat- gegen das Berufsleben, die Ersetzung der Wahrheit, die die Kirche lehrt, durch die eigenen Plausibilitäten; schleichender Verlust der Selbstkontrolle, des regelmäßigen Gebetes, der regelmäßigen geistlichen Begleitung (Beichte); Flucht in Vergnügungen und Zerstreuungen: Internet, Alkohol und Ähnliches. Kurzum: Das Verbrechen des Missbrauchs hat eine individuelle Vorgeschichte. Und wenn irgendeine Sünde, dann sollte man die des Missbrauchs von Kindern durch Priester nicht auf die Sündenböcke ‚Erziehung‘, ‚überfordernde Moral‘, ‚Machtstrukturen‘ oder ‚Verklemmungen‘ abwälzen. Wer nicht krank (schuldunfähig) ist, kann seinen Sexualtrieb wenigstens noch so weit beherrschen, dass er zumindest Minderjährige verschont. Wer die Zahl der Kleriker, die das Verbrechen des Missbrauchs und seiner Vertuschung begangen haben, mit der angeblich rigiden Sexualmoral der katholischen Kirche, mit dem Zölibat oder dem verklemmten Frauenbild des Klerus erklärt, entschuldigt die Täter und erweist ihren Opfern einen Bärendienst. Es wäre zudem an der Zeit, mit dem Thema ‚Missbrauch‘ auch das verwandte Thema ‚Doppelmoral der Kirchenleitung‘ aufzuarbeiten: Wie oft haben bischöfliche und von ihnen beauftragte Entscheidungsträger von 1946 bis 2014 geduldet, dass Priester, die ihren Zölibat gebrochen und Kinder gezeugt haben, nach einer Versetzung wieder vor einer Gemeinde standen, der sie die kirchliche Sexual- und Ehemoral vermitteln sollten? Wieviele Alimente für von Priestern gezeugte Kinder wurden unter der Maßgabe gezahlt, das verbotene Verhältnis und die Vaterschaft nicht nur vor der Öffentlichkeit, sondern auch vor den eigenen Kindern geheim zu halten? Wie muss – so darf man fragen – ein junger Mann beschaffen sein, der seine ganze Zukunft einer von dieser und ähnlichen Praktiken bestimmten Kirche schenken will? Durch das entsprechende Verhalten unzähliger Bischöfe ist die Glaubwürdigkeit des gesamten Klerus nachhaltig beschädigt worden. Wenn der Episkopat sich als „Täterorganisation“ bezeichnen lassen will, ist das seine Sache. Aber Bischöfe, die ihre Priesterschaft so bezeichnen, verleumden und beleidigen alle Seelsorger, die treu ihren Dienst verrichten und gegen alle Anfeindungen zu ihrer Kirche stehen.
Es ist bezeichnend für den Zustand der Kirche in Deutschland und speziell der Deutschen Bischofskonferenz mit ihrem ‚Synodalen Weg‘, dass die m. E. hellsichtigste Analyse des Missbrauchsskandals[6] totgeschwiegen wird. Denn sie erklärt die in den Jahren 1968 bis 1980 kulminierende Zahl der Missbrauchsfälle nicht zuerst mit den Strukturen und der Lehre der katholischen Kirche, sondern mit einem beispiellosen Glaubensabfall und einer durch Anpassungen bestimmten Verweltlichung. Gemeint ist die Wortmeldung des emeritierten Papstes – 2019 veröffentlicht unter dem Titel: "Ja, es gibt Sünde in der Kirche. Zum Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche". Um nur ein Ergebnis der sexuellen Revolution der sechziger und siebziger Jahre zu nennen: Nach 1968 stieg die Zahl der Schwangerschaften der Mädchen unter 14 Jahren um 900 % und die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche der kaum Fünfzehnjährigen um 260%. Und es gab zahllose „Humanwissenschaftler“ dieser Zeit, die mit jeder Art von sexueller Freiheit auch die Freigabe der Pädophilie propagiert haben. Papst Benedikt erzählt autobiographisch, wie er den Einbruch der Achtundsechziger-Ideologie in die Kirche, in die Priesterschaft, in die Priesterseminare und in die Verkündigung erlebt hat. Er spricht von einer sprunghaft ansteigenden Zahl der Priester und Ordensleute, die sich vom Kinsey-Report, von der Vermarktung der Sexualität und von psychologisierenden Gurus einreden ließen, der Zölibat sei ein neurotisierendes Mittel der Unterdrückung und das Ausleben der Sexualität ein Menschenrecht. Albert Christian Sellmann, lange Zeit einer der radikalsten Kirchenkritiker und Wortführer der Achtundsechziger-Revolution, hat die Analyse des emeritierten Papstes in jedem Punkt bestätigt. Und man sollte einmal nachlesen, was der von den Kommunisten verfolgte tschechische Theologe Josef Zverina zu der „Kölner Erklärung“ geschrieben hat, in der modern gewordene Theologen des Westens 1989 ihre Kirche auf fast dieselbe Weise reformieren wollten wie nunmehr der ‚Synodale Weg‘. Zverina spricht unumwunden von einem selbstzerstörerischen Irrweg.[7]
Das in der IV. Synodalversammlung mit der Sperrminorität der Bischöfe abgelehnte Papier des Synodalforums IV erklärt in seiner Präambel, dass die Kirche durch ihre Sexuallehre die Verbrechen des sexuellen Missbrauchs begünstigt habe. Worin diese Begünstigung besteht, wird nicht gesagt. Es wird einfach behauptet: „Auch durch die Lehre zur Sexualität […] haben sich Mitglieder unserer Kirche, aber auch die Kirche als Institution […] schuldig gemacht.“ Deshalb fordern die Synodalen nicht nur Präventivmaßnahmen gegen Missbrauch, sondern auch eine grundlegende „Veränderung der Lehre und der Praxis der Kirche im Umgang mit menschlicher Sexualität“. Die Synodalen folgen dem Referat, das Eberhard Schockenhoff zum Auftakt der „Lingener Zeitenwende“ gehalten hat.[8] Darin wird nichts Geringeres als eine Absage an die von Papst Johannes Paul II. promulgierte Enzyklika „Veritatis Splendor“ (1993) formuliert. In Zukunft soll ausschließlich die Intention der beteiligten Personen darüber entscheiden, ob sexuelle Handlungen – in oder außerhalb der Ehe, autoerotisch, homo- oder heterosexuell - ethisch gerechtfertigt sind. Der Moraltheologe Markus Christoph kritisiert die Konsequenzen dieser Position wie folgt: Dann ist der Sexualakt ein ‚Neutrum‘, das seine „Bedeutung von den Akteuren erhält. So lassen sich schlagartig Selbstbefriedigung, Verhütung, außerehelicher oder homosexueller Verkehr positiv bewerten – solange die Grundhaltung stimmt. Gleiches müsste dann wohl auch gelten für einvernehmliche Seitensprünge, BDSM-Spiele und Polyamorie – solange das gewonnene Mehr an Lust einer Beziehung insgesamt gut tut.“[9] Dass Letzteres keine konsequenzialistische Unterstellung ist, beweisen u. a. Vorgänge in den Bistümern, die sich verpflichtet haben, die persönliche Lebensführung ihrer Mitarbeiter nicht mehr zu beachten. Eric Tilch, Jugendbildungsreferent bei der Jugendkirche Kana in Wiesbaden, erklärt mit dem Segen seines Bischofs auf der Homepage der Diözese Limburg: „Ich kann mich erst dann von der Kirche als schwuler Mann angenommen fühlen, wenn ich auch mit wechselnden Partnern akzeptiert werde.“
Der 2022 mit Zweidrittelmehrheit der deutschen Bischöfe verabschiedete theologische "Orientierungstext" fordert ein erweitertes Verständnis der „loci“ des Offenbarungsgeschehens. Konkret: Die ‚Zeichen der Zeit‘ – von Bischof Franz Josef Bode mit den „Lebenswirklichkeiten“ der statistischen Mehrheit identifiziert[10] - sollen offenbarungstheologisch aufgeladen werden. Doch abgesehen davon, dass es zuerst die braun gefärbten „Deutschen Christen“ waren, die in ihrem Kampf gegen die „Bekennende Kirche“ von den „Lebenswirklichkeiten als zweiter Quelle der Offenbarung“ sprachen, kann der „Glaubensinn der Gläubigen“ kein zweites Lehramt sein.[11] Die Frankfurter Synodalen aber erklären: Es „ereignet sich im Glaubenssinn der Gläubigen immer wieder neu eine Selbstmitteilung Gottes.“ Als wenn die Selbstmitteilung Gottes nicht mit dem Christusereignis und dessen apostolischer Interpretation abgeschlossen wäre! Statt alle ‚Zeichen der Zeit‘ im Lichte von Schrift und Tradition zu deuten (vgl. GS 4; 11), fordert Frankfurt die Deutung von Schrift und Tradition durch die ‚Zeichen der Zeit‘. Die dahinter stehende Absicht ist mit Händen zu greifen. Wenn – zum Beispiel! - die Forderung nach dem Frauenpriestertum ein ‚Zeichen der Zeit‘ ist und ‚Zeichen der Zeit‘ „Quellen göttlicher Selbstmitteilung“[12] oder „wirkliche Offenbarungsorte“[13] sind, dann ist die von den letzten vier Päpsten wiederholt als irreversibel erklärte Bindung des Ordo-Sakramentes an das männliche Geschlecht doch noch revidierbar. Es geht den Synodalen aus durchsichtigen Gründen um nichts weniger als eine Revision der theologischen Erkenntnislehre. Und was bis dato für undenkbar galt: Mehr als zwei Drittel der deutschen Bischöfe haben zugestimmt. Der Kommentar des früheren Präfekten der römischen Glaubenskongregation lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „An der verzögerten Reform der Kirche an Haupt und Gliedern und dem Ausbruch der ‚Reformation‘, die in der Katastrophe der abendländischen Kirchenspaltung endete, haben die römische Kurie und die deutschen Bischöfe wegen ihrer Nachlässigkeit und sträflichen Inkompetenz eine hohe Mitverantwortung […]. In besseren Zeiten [z. B. in einem Schreiben gegen Bismarck: DH 3116] hatten die deutschen Bischöfe die Grenzen der kirchlichen Vollmacht noch klar benannt, nämlich dass selbst der Papst und alle Gläubigen gebunden sind an die Schrift, die Tradition und das bisherige Lehramt und dass man keineswegs unter dem Vorwand einer ‚neuen Hermeneutik‘ das Glaubensbekenntnis und die Lehre der Kirche substanziell umdeuten oder gar aushöhlen kann […]. Statt sich den großen theologischen und anthropologischen Herausforderungen des Entchristlichungsprozesses intellektuell und spirituell zu stellen, meint man mit der Neuauflage der alten Agenda der 1970er Jahre (Aufhebung des unverstandenen Priesterzölibates, Zugang von Frauen zum sakramentalen Amt, Interkommunion bei bleibender Trennung im Glauben, Anerkennung sexueller Gemeinschaft außerhalb der Ehe et cerera) die Kirche modernisieren zu müssen.“[14]
Nur eine sehr knappe Mehrheit hat verhindert, dass Frankfurt den Opfern des Missbrauchs ein unfehlbares Lehramt zugesprochen hat. Der Hintergrund: Bischof Franz-Josef Overbeck vergleicht den Missbrauchsskandal mit der Zeitachse, die Karl Jaspers als größte Wende der Menschheitsgeschichte bezeichnet hat.[15] Die Missbrauchsopfer, so fordert der Essener Oberhirte, müssen als Lehrer der Kirche erkannt und anerkannt werden. Overbeck wörtlich: „Wir können […] von einem Lehramt der Betroffenen sprechen. So werden sie in die Nähe Jesu gerückt. Und es ist mir wichtig, dass wir an dieser Stelle wissen: Das ist das einzig wirkliche unfehlbare Lehramt.“[16] Overbeck fragt nicht, ob die Missbrauchsopfer unfehlbare Lehrer der „Täterorganisation Kirche“ (Bischof Georg Bätzing) sein wollen. Er erklärt sie, ob gläubig oder nicht, auch gegen ihren Willen zu Funktionsträgern der Kirche und verweigert jede Auskunft auf die ihm von Jan-Heiner Tück gestellte Frage: „Was denn genau soll das unfehlbare Lehramt der Betroffenen im Blick auf die Synodalforen zu Macht und Gewaltenteilung, zur priesterlichen Existenz heute, zur Rolle der Frau in der Kirche und zur Erneuerung der Sexualmoral konkret bedeuten?“[17]
Der erste Grundfehler des ‚Synodalen Weges‘ liegt in der Ableitung der vier „Reform-Themen“ aus dem Missbrauchsskandal. Und der zweite Grundfehler wurzelt in der Ausklammerung des von Papst Franziskus in seinem Brief (29.6.2019) an den deutschen Episkopat als vorrangig bezeichneten Themas „Neuevangelisierung“.[18] Es ist geradezu empörend, wie sich der ‚Synodale Weg‘ über die Mahnungen des Papstes und die inzwischen erfolgten Anfragen ganzer Bischofskonferenzen hinwegsetzt. Im Unterschied zu den meisten deutschen Bischöfen ist Papst Franziskus überzeugt, dass die gegenwärtige Krise der Kirche eine Folge mangelnder Verkündigung ihres Glaubens ist. Wenn die Frankfurter Synodalen meinen, dass z. B. viele Aspekte der kirchlichen Sexualmoral „von einer Mehrheit der Gläubigen nicht verstanden“ und „nicht als sündhaft betrachtet werden und folgerichtig auch nicht Gegenstand des Beichtgespräches“ sind, verwechseln sie Ursache und Wirkung. Wo denn in Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten die kirchliche Sexualmoral verkündet oder gar positiv erklärt worden? Man hat in Deutschland „diese Sexualmoral Generationen junger Menschen vorenthalten und will nun das Ergebnis dieses Versäumnisses zur Grundlage ihrer Abschaffung machen.“[19]
Wenn die Ursakramentalität Jesu und die Grundsakramentalität der Kirche; wenn der wesentliche Unterschied zwischen dem besonderen Priestertum der Ordinierten und dem gemeinsamen Priestertum der Getauften oder der Ausschluss der Frau vom Sakrament des Ordo von einer statistischen Mehrheit nicht mehr verstanden werden, kann die Antwort doch nicht in der Ersetzung des sakramentalen Denkens von Schrift und Tradition durch das funktionale Denken der Moderne bestehen. Genau das aber fordern viele der Synodalen, die ihre Erwartungen an den deutschen Sonderweg in einem Sammelband publiziert haben. Dessen theologische Qualität kann als geradezu unterirdisch bezeichnet werden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind die Autoren von der Überzeugung beseelt, die Zukunft der Kirche hänge von Demokratisierungen, Anpassungen und Liberalisierungen ab.[20]
Für den ‚Synodalen Weg‘ bezeichnend ist, dass die Bewegungen, die besonders viele junge Leute für den christlichen Glauben begeistern, nicht auf ihm vertreten sind. Diese Gemeinschaften sind in demselben Maße um argumentierende Glaubensvermittlung wie um liturgische Christuserfahrung bemüht. Sie beweisen, dass auch die Sexual- und Ehemoral der Kirche der Vermenschlichung des Menschen dient; dass sie – aus dem Glauben an Christus gelebt - nicht neurotisiert, sondern heilt.
Obwohl die vom hl. Petrus Canisius getragene Kirchenreform nur sehr bedingt mit der heute anstehenden vergleichbar ist, zieht sich ein roter Faden durch die gesamte Kirchengeschichte: Jede Krise ist im Ursprung eine Krise des Glaubens. Und: Noch nie hat sich die Kirche durch Verweltlichung, wohl aber durch Entweltlichung erneuert. Man kann als ehernes Gesetz formulieren: In dem Maße, in dem der Klerus die evangelischen Räte und also Christusrepräsentation als Christusverähnlichung gelebt hat, ging es mit der Kirche aufwärts. Und wir müssen den Mut zur kleinen Zahl haben. Wir müssen in kleinen Gemeinschaften beginnen, wieder unverkürzt die Lehre der Kirche zu leben. Dann kann die heilende und frohmachende Kraft des Christentums von neuem Licht der Welt und Salz der Erde werden. Nur unter dieser Voraussetzung kann sich der missionarische Erfolg des Heiligen Petrus Canisius wiederholen.
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[1] JRGS 12, 193.
[2] https://www.katholisch.de˂artikel˃21367-wilmer-steh
[3] https://www.katholisch.de˂artikel˃19673-batzing-kir
[4] Georg Essen, Das kirchliche Amt zwischen Sakralisierung und Auratisierung. Dogmatische Überlegungen zu unheilvollen Verquickungen, in: Magnus Striet / Rita Werden (Hgg.), Unheilige Theologie! Analysen angesichts sexueller Gewalt gegen Minderjährige durch Priester (Katholizismus im Umbruch 9), Freiburg 2019, 78-105; 93. – Die Orientierung des von Papst Benedikt XVI. ausgerufenen „Priesterjahres“ an der Gestalt des Pfarrers von Ars ist für Georg Essen symptomatisch für eine Idealisierung, an der, wie er meint, unzählige Zölibatsexistenzen bis hin zum Absturz in das Verbrechen des Kindesmissbrauchs gescheitert sind. Es gelte darüber nachzudenken, „dass der Papst allen Ernstes diesen intellektuell dürftigen, theologisch durch und durch ungebildeten Pfarrer, der gewiss fromm, aber doch wohl hochneurotisch gewesen ist, als Ideal für das Priesterbild des 21. Jahrhunderts glaubt empfehlen zu müssen.“ (Ebd. 91).
[5] Einer der Wortführer des ‚Katholizismus im Umbruch‘, der einschlägig bekannte Mainzer Moraltheologe Stephan Goertz, karikiert die von ihm als antimodern bezeichnete Position der ewig Gestrigen mit folgendem Fazit: „Hielten sich alle an die definierten Normen der herkömmlichen katholischen Sexualmoral […], gäbe es keine Fälle von sexuellem Missbrauch. Dass sich grundsätzlich alle in ihrer menschlichen Freiheit, zumal der Klerus, an diese Normen halten können, wird dabei vorausgesetzt. Von der normativen Vorgabe abweichendes Handeln wird in der Regel als nicht entschuldbare Willensschwäche begriffen. Die Schuld am Missbrauch liegt demnach nicht auf Seiten der moralischen Restriktionen, sondern entweder auf Seiten des Individuums oder auf Seiten der Gesellschaft, sollte diese die Geltung der katholischen Sexualmoral in Frage stellen. (Sexueller Missbrauch und katholische Sexualmoral. Mutmaßliche Zusammenhänge, in: Magnus Striet / Rita Werden [Hgg.], Unheilige Theologie! Analysen angesichts sexueller Gewalt gegen Minderjährige durch Priester [Katholizismus im Umbruch 9], Freiburg 2019, 106-139; 107 f.)
[6] Papst Benedikt XVI. em., Ja, es gibt Sünde in der Kirche. Zum Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche. Mit einer Einführung von Albert Christian Sellner, Kißlegg 2019.
[7] Josef Zverina, Zu der Kölner Erklärung „Wider Entmündigung – für eine offene Katholizität“, in: Ders., Fünf Wege zur Freude. Theologische Reflexionen über eine kämpfende Kirche, Leipzig 1995, 74-76
[8] Eine detaillierte Analyse und Einordnung des Schockenhoff-Referates bietet: Bernhard Meuser, Freie Liebe. Über neue Sexualmoral, Basel 2020, bes. 113-260.
[9] Markus Christoph, Lingener „Weltenwende“. Was meint „moderne Sexualwissenschaft“?, in: „Was Er euch sagt, das tut!“ Kritische Beleuchtung des Synodalen Weges, hg. von Christoph Binninger u. a., Regensburg 2021, 111-114; 113 f.
[10] https://www.archivioradiovaticana.va˃storico˂ted-829135
[11] Dazu: Sensus fidei und sensus fidelium im Leben der Kirche. Der Text der Internationalen Theologischen Kommission, in: Der Spürsinn des Gottesvolkes. Eine Diskussion mit der Internationalen Theologischen Kommission (QD 281), hg. v. Thomas Söding, Freiburg 2016, 13-76.
[12] Christoph Böttigheimer, Thematische Hinführung, in: Ders. / Florian Bruckmann (Hgg.), Glaubensverantwortung im Horizont der "Zeichen der Zeit" (QD 248), Freiburg 2012, 11-26; 13.
[13] Christoph J. Amor, Die Zeichen der Zeit als (offenbarungs-)theologischer Erkenntnisort? Eine kleine Problemskizze, in: ZKTh 136 (2014) 32-45; 37.
[14] Gerhard Ludwig Kardinal Müller, Macht und Synodalität. Ein klärungsbedürftiges Paar, in: „Was Er euch sagt, das tut!“ Kritische Beleuchtung des Synodalen Weges, hg. von Christoph Binninger u. a., Regensburg 2021, 60-65; 63-65.
[15] https://www.katholisch.de˃artikel˃23574-overbeck-k.
[16] Zitiert nach: Jan-Heiner Tück, Die Vereinnahmungsfalle, in: HK 76/3 (2022) 46-48; 46.
[17] Anm. 16, 47.
[18] Der zum „geistlichen Begleiter“ des ‚Synodalen Weges‘ bestellte Jesuit Bernd Hagencord SJ († 2021) kommentiert den Papst-Brief in ausdrücklicher Absetzung von den entsprechenden Äußerungen der Bischöfe Georg Bätzing und Franz-Josef Bode wie folgt: „Franziskus warnt in seinem Schreiben davor, die Lösung der Probleme ausschließlich ‚auf dem Wege der Reform von Strukturen, Organisationen und Verwaltung zu erreichen‘. Steckt darin nicht doch der Hinweis, die Deutschen mögen bitte die Finger von den bekannten Reformforderungen lassen: flachere Hierarchien, die Weihe von Frauen, die Abschaffung des Zölibats?“ (https://www.vaticannews.va˃papst˂news˃papstbrief)
[19] Christian Spaemann, Ideologie der „Vielfalt“. Ein Leitfaden für neue Sexualmoral?, in: „Was Er euch sagt, das tut!“ Kritische Beleuchtung des Synodalen Weges, hg. v. Christoph Binninger u. a., Regensburg 2021, 115—118; 118.
[20] Vgl. Karl-Heinz Menke, Rezension von: Michaela Labudda / Marcus Leitschuh (Hgg.), Synodaler Weg: Letzte Chance? Standpunkte zur Zukunft der katholischen Kirche, Paderborn 2021, in: Die Tagespost (28.1.2021) 7.