19. April 2023 | Hirtenbrief über menschliche Sexualität
Autor: Bischof Czeslaw Kozon, Kopenhagen, Kardinal Anders Arborelius OCD, Stockholm, u.a.
Quelle: www.nordicbishopsconference.org
Liebe Brüder und Schwestern,
die vierzig Tage der österlichen Bußzeit vergegenwärtigen uns die vierzig Tage, die Christus fastend in der Wüste verbrachte. Darüber hinaus bezeichnen Vierzig-Tage-Zeiten in der Heilsgeschichte entscheidende Phasen in Gottes Erlösung, die er bis heute wirkt. Die erste dieser göttlichen Interventionen fand in den Tagen Noahs statt. Gott sah, wie zerstörerisch die Menschheit geworden war[1], und gab sie einer reinigenden Taufe anheim. „Regen ergoss sich vierzig Tage und vierzig Nächte lang auf die Erde.“[2] Am Ende der Flut stand ein Neubeginn.
Als Noah und seine Verwandtschaft ihren Fuß auf eine reingewaschene Erde gesetzt hatten, schloss Gott den ersten Bund mit allem Fleisch. Für sein Bundesversprechen, dass nie wieder eine Flut die Erde verwüsten werde, erwartete er von der Menschheit Gerechtigkeit: sie sollte ihn anbeten, untereinander Frieden stiften und fruchtbar sein. Wir sollen als Gesegnete auf Erden leben und Freude aneinander finden. Dieses wundervolle Potenzial tragen wir in uns, solange wir im Gedächtnis behalten, wer wir sind: „Als Abbild Gottes hat er den Menschen gemacht.“[3] Wir sind berufen, dieses Abbild zur Wirklichkeit werden zu lassen, und zwar durch unsere Lebensführung und die Entscheidungen, die wir treffen. Gott hat ein Zeichen an den Himmel gesetzt, um den Bund zu bestätigen: „Meinen Bogen setze ich in die Wolken; er soll das Bundeszeichen sein zwischen mir und der Erde. Steht der Bogen in den Wolken, so werde ich auf ihn sehen und des ewigen Bundes gedenken zwischen Gott und allen lebenden Wesen, allen Wesen aus Fleisch auf der Erde.“[4]
Dieses Bundeszeichen, der Regenbogen, wird heute als Symbol einer zugleich politischen und kulturellen Bewegung beansprucht. Wir erkennen alle hochgesinnten Ziele dieser Bewegung an und teilen sie, insofern es sich dabei um die Achtung der menschlichen Würde und die Sehnsucht jedes Einzelnen, wahrgenommen zu werden, handelt. Jede Art von Diskriminierung verurteilt die Kirche, und das schließt Diskriminierung aufgrund von geschlechtlicher Identität oder Orientierung ein. Wir erheben allerdings Widerspruch, wenn durch jene Bewegung ein Menschenbild transportiert wird, das die leibliche Integrität der Person auflöst, als ob das biologische Geschlecht etwas rein Zufälliges wäre. Und wir protestieren dagegen, wenn Kindern solche Ansichten aufgedrängt werden als wären sie nicht gewagte Hypothesen, sondern nachgewiesene Fakten; wenn sie Minderjährigen auferlegt werden als drückende Last, über die eigene Identität bestimmen zu müssen, ohne dass sie dafür gerüstet sind. Es ist doch eigenartig, wie leicht unsere – sonst so körperbetonte – Gesellschaft den Körper nimmt und sich weigert, dessen Bedeutung für unsere Identität anzuerkennen. Stattdessen soll das Einzige, was Konsequenzen für eine Person beanspruchen dürfe, jene subjektive Eigenwahrnehmung sein, die jeder für sich nach seinem eigenen Bilde hervorbringt.
Das Bekenntnis der Gottebenbildlichkeit des Menschen bezieht sich dahingegen nicht nur auf die Seele. Gottes Bild ist auch dem Körper – unserem Leib – eingeprägt. Für uns Christen gehört der Leib wesenhaft zum Person-Sein. Wir glauben schließlich an die Auferstehung des Leibes. „Wir werden alle verwandelt werden“[5], ohne Zweifel, und wie unsere Körper in der Ewigkeit gestaltet sein werden, übersteigt unsere Vorstellungskraft. Dennoch glauben wir – der Bibel gehorsam und in der Tradition verwurzelt –, dass Geist, Seele und Leib zu einer ewigen Einheit erschaffen sind. In der Ewigkeit werden wir als die erkennbar, die wir jetzt schon sind. Die Widersprüche hingegen, die uns noch daran hindern, unsere wahre Persönlichkeit harmonisch zu entfalten, werden dann aufgelöst sein.
„Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin.“[6]Der heilige Paulus hatte manche inneren Kämpfe durchzustehen, bis er diese Aussage treffen konnte. Oft genug ergeht es uns genauso. Uns ist sehr deutlich bewusst, was wir alles nicht sind; wir konzentrieren uns auf Gaben und Talente, die wir nicht empfangen haben, auf Zuneigung und Bestätigung, die uns versagt blieben. All das stimmt uns traurig, sodass wir diese Mängel zu kompensieren suchen. Manchmal ist das gescheit. In vielen Fällen aber vergeblich. Um bei der Annahme unserer selbst ankommen zu können, müssen wir uns der Realität stellen, die auch unsere Widersprüche und Wunden umfasst. Die Bibel und die Viten so vieler Heiliger zeigen uns, wie aus unseren Wunden durch die Gnade Quellen der Heilung für uns selbst und andere werden können.
Das Bild Gottes in der menschlichen Natur verwirklicht sich in der Komplementarität von Männlich und Weiblich. Mann und Frau sind füreinander geschaffen: Das Gebot, fruchtbar zu sein und sich zu vermehren, hängt von dieser Gegenseitigkeit ab, die durch die eheliche Gemeinschaft geheiligt ist. Die Heilige Schrift bezeugt die Ehe von Mann und Frau als Bild für Gottes Vereinigung mit der Menschheit, die sich in der Hochzeit des Lammes am Ende der Zeit vollenden wird.[7] Das heißt nicht, dass uns eine solche Vereinigung leicht fiele oder ohne Schmerzen möglich wäre. Für manche scheint diese Option eine Unmöglichkeit zu sein. Auf einer persönlicheren Ebene stellt uns die Integration von männlichen und weiblichen Anteilen unseres Charakters vor Herausforderungen. Das erkennt die Kirche an. Sie will alle, die darunter leiden, mit offenen Armen empfangen und ermutigen.
Als eure Bischöfe betonen wir: Wir sind für alle da und sind gerne bereit, alle zu begleiten. Das Sehnen nach Liebe und die Suche nach sexueller Ganzheit berühren das Innerste im Menschen, wo er am verwundbarsten ist. Auf dem Weg zu dieser Ganzheit ist Geduld gefragt – und Freude über jeden Schritt nach vorne. Was für ein Quantensprung ist beispielsweise die Entwicklung von einem Leben in wahllosen sexuellen Beziehungen hin zu einer in Treue gelebten Partnerschaft, auch wenn diese treue Beziehung nicht der objektiven Ordnung einer sakramental geschlossenen Ehe entspricht. Jede Suche nach Integrität verdient Respekt und Ermutigung. Wachstum an Weisheit und Tugenden ist ein organischer Prozess, der in kleinen Schritten vor sich geht. Gleichwohl benötigt dieses Wachstum ein Ziel, dem es entgegenstrebt, um fruchtbar zu sein. Unsere Sendung und Aufgabe als Bischöfe ist es, Wegweiser auf dem Pfad der Gebote Christi zu sein. Dieser Pfad des Friedens und des Lebens ist schmal an seinem Beginn, wird jedoch mit jedem Schritt weiter, den wir auf ihm voranschreiten. Wir ließen euch im Stich, würden wir euch weniger bieten. Schließlich wurden wir nicht dazu geweiht, unsere persönlichen Ansichten zu predigen.
In der gastfreundlichen Gemeinschaft der Kirche ist Platz für alle. Die Kirche ist ja die „Barmherzigkeit Gottes, die auf die Menschheit herabkommt“[8], wie ein alter Text sagt. Von dieser Barmherzigkeit ist niemand ausgeschlossen, sie stellt uns aber ein hohes Ideal vor Augen. Die Gebote buchstabieren dieses Ideal aus und helfen uns, aus unseren zu engen Begrifflichkeiten herauszuwachsen. Wir sind berufen, neue Frauen und Männer zu werden. In jedem von uns gibt es chaotische Anteile, die der Ordnung bedürfen. Die Gemeinschaft mit den Sakramenten der Kirche setzt die Übereinstimmung mit den Bedingungen, die der in Christi Blut besiegelte Bund stellt, voraus– auch die Übereinstimmung der persönlichen Lebensführung.. Unter bestimmten Umständen kann ein Katholik außer Stande sein, die Sakramente zu empfangen. Er oder sie ist dadurch nicht weniger Glied der Kirche. Die Erfahrung eines inneren Exils, das im Glauben angenommen wird, kann zu einem tieferen Zugehörigkeitsgefühl führen. Oft nehmen in der Heiligen Schrift Exilserfahrungen genau diese Wendung. Jeder von uns muss seinen persönlichen Exodus vollziehen, doch keiner geht auf diesem Weg allein.
Gottes erstes Bundeszeichen umgibt uns, auch und gerade in Zeiten der Versuchung. Es ruft uns dazu auf, den Sinn unseres Lebens nicht in den fragmentierten Farben des Regenbogens zu suchen, sondern in der göttlichen Quelle des ganzen, prachtvollen Lichtsprektrums, das aus Gott strömt und uns mahnt, Gott gleich zu werden. Als Jünger Christi, der ja das Bild Gottes ist[9], können wir nicht zulassen, dass der Regenbogen zu etwas reduziert wird, das weniger wäre als das Zeichen des lebensspendenden Bundes zwischen Schöpfer und Schöpfung. Gott hat uns mit „kostbaren und überaus großen Verheißungen“ beschenkt, damit wir „durch diese Anteil an der göttlichen Natur“[10] erhalten. Gottes Bild ist unserem Wesen eingeprägt und fordert uns heraus zur Heiligung in Christus. Jede Rede vom menschlichen Begehren, die die Messlatte niedriger legt, ist, von einem christlichen Standpunkt aus gesehen, ungenügend. Nun befinden sich die Deutungen, was es heißt, Mensch – und damit ein sexuelles Wesen – zu sein, im stetigen Fluss. Was man heute als selbstverständlich betrachtet, kann morgen verworfen werden. Wer, gestützt auf Theorien, die bald überholt sind, einen großen Einsatz wagt, läuft Gefahr, schrecklich verletzt zu werden. Wir brauchen darum tiefe Wurzeln. Versuchen wir also, uns die fundamentalen Grundsätze der christlichen Anthropologie zu eigen zu machen, und gleichzeitig all denen in Freundschaft und mit Respekt die Hand zu reichen, denen diese Lehre so fremd vorkommt. Wir schulden es dem Herrn, uns selbst und unserer Welt, Rechenschaft davon zu geben, was und woran wir glauben – und warum wir diesen Glauben für wahr halten.
Viele versetzt die traditionelle christliche Lehre über Sexualität in Ratlosigkeit. Ihnen bieten wir einen freundschaftlichen Rat an: Versucht zuerst, euch mit Christi Forderungen und Verheißungen vertraut zu machen, ihn durch die Lektüre der Heiligen Schrift und im Gebet, durch die Liturgie und das Betrachten der vollen Lehre der Kirche – und nicht nur durch ein paar aufgeschnappte Brocken – besser kennenzulernen. Beteiligt euch am Leben der Kirche. Dadurch erweitert sich nicht nur der Horizont der Fragestellung, mit der ihr aufgebrochen seid, sondern auch euer Geist und euer Herz. Berücksichtigt zweitens, wie unvollständig ein rein innerweltlicher Zugang zum Thema Sexualität zwangsläufig bleiben muss. Er bedarf einer Vertiefung. Wir brauchen ein angemessenes Vokabular, um miteinander über diese wesentlichen Dinge zu sprechen. Wenn wir die sakramentale Dimension der Sexualität, wie sie in Gottes Plan angelegt ist, wiederentdecken, wenn wir der Schönheit der christlichen Keuschheit gewahr werden und der Freude der Freundschaft, die uns zeigt, dass auch in nicht-sexuellen Beziehungen wahrhaft befreiende Intimität zu finden ist – dann haben wir einen wertvollen Beitrag in diesem Diskurs zu leisten.
Der Sinn der kirchlichen Lehre ist nicht, Liebe zu beschneiden, sondern zu ermöglichen. Der Katechismus der Katholischen Kirche von 1992 zitiert am Ende seines Prologs einen Abschnitt aus dem Römischen Katechismus von 1566: „Die ganze Belehrung und Unterweisung muss auf die Liebe ausgerichtet sein, die kein Ende hat. Mag man also etwas vorlegen, was zu glauben, zu erhoffen oder zu tun ist, immer ist dabei vor allem die Liebe zu unserem Herrn zu empfehlen, damit jeder einsieht, dass alle Werke vollkommener christlicher Tugend einzig und allein in der Liebe entspringen und auf kein anderes Ziel gerichtet werden können als auf die Liebe.“[11]Diese Liebe hat die Welt erschaffen und unsere Menschennatur gebildet. Diese Liebe hat sich offenbart im Beispiel Christi, seiner Lehre, seinem heilbringenden Leiden und seinem Tod. Sie hat sich siegreich gezeigt in seiner herrlichen Auferstehung, die wir in den kommenden fünfzig Tagen der Osterzeit mit Freuden feiern werden. Möge unsere katholische Gemeinschaft in all ihren Farben und Facetten Zeugnis von dieser Liebe in Wahrheit ablegen.
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[1] Vgl. Gen 6,5.
[2] Gen 7,12.
[3] Gen 9,6.
[4] Gen 9,13.16.
[5] 1 Kor 15,51.
[6] 1 Kor 15,10.
[7] Vgl. Offb 19,7.
[8] us der Syrischen Schatzhöhle, einem Midrasch aus dem vierten Jahrhundert.
[9] Vgl. Kol 1,15.
[10] 2 Petr 1,4.
[11] Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 25; vgl. Der Römische Katechismus, Vorwort 10; vgl. 1 Kor 13,8.